Michael Stoeber zur Ausstellung DREI im KUBUS Hannover, 2000

Es gibt von Jobst Tilmann ein schönes kleines Künstlerbuch aus dem Jahr 1991, Tuschezeichnungen auf Papier mit dem Titel „Horizon Vertical“.
In diesem Buch steht bis auf zwei Zitate kein Text. Das eine Zitat stammt von dem französischen Philosophen Descartes, das andere von dem amerikanischen Schriftsteller Henry Miller. Die Zitate hätten geschickter nicht gewählt sein können, um die Kunst von J. Tilmann zu illustrieren. Deshalb will ich sie Ihnen auch nicht vorenthalten.
Descartes schreibt: „ Zerlege ein Problem in soviele Bestandteile, bis es verständlich wird.“ In dem Satz aus Descartes Discours de la méthode haben Sie die ganze Methode von Tilmann, der als Maler nach festen Parametern arbeitet.
Das Problem von Bildaufbau und Komposition, von Sujet und Thema, von Form und Farbe löst er durch eine List der Vernunft. Vernunft heißt bei Tilmann äußerste Beschränkung. Beschränkung darauf, daß Bild in Felder zu teilen, sich für einen bestimmten Pinsel und damit für eine bestimmte Pinselbreite zu entscheiden, ihn in regelmäßigen und ruhigen, vertikalen und horizontalen Bahnen über Papier oder Leinwand zu führen, Bahnen und Felder genau einzuhalten, sich beim Farbauftrag
auf die Primärfarben plus Weißbeimischungen in unterschiedlicher Konzentration zu beschränken und dabei verschiedene Schichten übereinander zu legen.
Das Ergebnis sehen Sie in ebenso strahlender wie sinnverwirrender Schönheit vor sich an der Wand.
Tilmann ist ein Meister der subtilen Geste und der diskreten Intervention. Minimale Abweichungen und federleichte Irritationen bestimmen das Gewicht seiner Bilder.
In drei unterschiedlichen Formaten breitet er hier eine Werkserie vor unseren Augen aus, die vom Großen zum Kleinen geht und so den Blick des Betrachters in gewisser Weise stetig konzentriert und fokussiert und auf das Detail lenkt.
Und damit komme ich zum Zitat von Henry Miller. Es lautet: „Es geht nicht um die Worte selbst, sondern wie sie nebeneinandergestellt sind - und darin offenbart sich der schöpferische Geist. Welche Worte er zusammenstellt und wie er sie
zusammenstellt und was sie heraufbeschwören - und nicht, was sie sagen.“
Mit anderen Worten: es geht um Suggestion, um Magie, um Verführung.
Und das gelingt Tilmann mit einer tour de main, mit einer Drehung der Hand so wie bei einem Zauberer, aus dessen weiten Mantelärmeln plötzlich weiße Tauben schlüpfen.
Dabei ist nichts Geheimnisvolles an seiner Bildproduktion. Er stellt uns sein System der Bildgenerierung klar vor Augen. Aber es ist wie mit der Sprache. Auch Miller und alle seine wunderbaren Schriftstellerkollegen benutzen dasselbe Lexikon wie wir: nur was sie mit den Wörtern anzufangen wissen, das übersteigt immer wieder unsere Vorstellungskraft.
Man spricht im Zeitalter der Computer soviel von virtuellen Systemen. Das Alphabet ist das älteste und wunderschönste virtuelle System, das ich kenne.
Nicht anders ist es mit Pinsel, Leinwand und Farbe.
Ich sagte, es geht um Magie, aber natürlich geht es genauso um Klarheit und Deutlichkeit.
Descartes und Miller, der Philosoph und der Erzähler - zwei Seiten einer Medaille.

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