Michael Stoeber – ULYSSE, 2009

Der Künstler auf der Suche nach Ithaka
Jobst Tilmann im Kubus

   „Ulysse“ nennt Jobst Tilmann die Bilder seiner neuen Werkserien, die er seit dem Jahre 2006 entwickelt hat. Ulysse, die französische Bezeichnung für den antiken Held Odysseus, verweist auf zweierlei: Einmal auf die Vorliebe des Künstlers für Frankreich, ein Land, das bereits seit langer Zeit eine Art zweiter Heimat für ihn ist. Zum anderen erinnert die Namenswahl des listenreichen und herumgetriebenen Odysseus für die Benennung seiner Bilder daran, dass Tilmann trotz - oder vielleicht auch wegen - des abstrakten Charakters seines künstlerischen Werkes schon immer gerne mit literarischen und philosophischen Zitaten und Querverweisen operiert hat, um dem Betrachter in assoziativer Weise einen weiteren Zugang zu dessen Gehalt zu eröffnen. Dass der Maler diese narrativen Referenzen klug zu wählen weiß, daran besteht kein Zweifel. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an ein kleines Künstlerbuch aus dem Jahre 1991, „Horizon Vertical“, das bis auf zwei Zitate keinerlei Text enthält. Das eine Zitat stammt von dem französischen Philosophen René Descartes aus seinem „Discours de la Méthode“ und lautet: „Zerlege ein Problem in so viele Bestandteile, bis es verständlich wird.“ In dieser Empfehlung wird wie unter einem Brennspiegel die Strategie deutlich, der Tilmanns Malerei bis zu der Entwicklung seiner neuen Werke gefolgt ist. Es ist eine rationale, um nicht zu sagen, kartesianische Strategie. In ihr löst er das Problem von Bildaufbau und Komposition, Sujet und Thema, Form und Farbe mit einer List der Vernunft. Schon da ist Tilmann also ein Ulysse, ein Odysseus avant la lettre. Er teilt seine Bilder in Felder, entscheidet sich für einen bestimmten Pinsel und mit ihm für eine bestimmte Pinselbreite, führt ihn in regelmäßigen und ruhigen, vertikalen und Horizontalen Bahnen über Papier und Leinwand, beschränkt sich beim Farbauftrag auf die Primärfarben plus Weißbeimischung in unterschiedlicher Konzentration und legt verschiedene Farbschichten übereinander.
   Voilà tout! Oder besser, noch lange nicht alles! Denn was die Wirkung der Bilder ausmacht, wird durch die Beschreibung des Systems allein nicht erfasst. Eines sehr klaren, in seiner sich wiederholenden Orthogonalität sogar etwas fantasielos anmutenden Systems. Man befürchtet, die schlichte Rechtwinkeligkeit, die sich hier als Bild artikuliert, möchte zu langweiligen Ergebnissen führen. Weit gefehlt! Die wenigen Parameter seiner Kunst weiß Tilman zu einem einzigartigen Reichtum an malerischen Äußerungen und Modulationen zu bringen, indem er in seinen Bildern das Systematische und Subjektive gelingend  zusammen führt. Es geht ihm bei seiner malerischen Strategie keineswegs um die Ideale der konstruktiven Kunst. Seine rechten Winkel stellen keine ultimativen Formen und Formeln vor. Sondern seine Bilder versöhnen das Vollkommene und das Defizitäre, Ideal und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt in einer Weise, dass die Augen des Betrachters in ihnen immer neue Entdeckungen machen und ihre geglückte Allianz widerstrebender Tendenzen seinen Geist beglückt. Diesen Aspekt erfasst nun das zweite, von Tilmann für sein Buch gewählte Zitat des amerikanischen Schriftstellers Henry Miller. Es heißt: „Es geht nicht um die Worte selbst, sondern wie sie nebeneinander gestellt sind – darin offenbart sich der schöpferische Geist. Welche Worte er zusammenstellt und wie er sie zusammenstellt und was sie heraufbeschwören – und nicht, was sie sagen.“ Mit diesem Zitat Millers sind wir plötzlich auf dem Terrain der Evokation („was sie herauf beschwören“). Nun geht es nicht mehr nur um Wahrheit und Klarheit wie bei Descartes, sondern auch um Magie und Verführung. Um das, was der Dichter mit seinen Worten beim Leser bewirkt und der Künstler mit seinen Bildern beim Betrachter. Das sind die divergenten Pole, die Jobst Tilmann in seinem Werk bis heute zu erreichen sucht und nach denen er unterwegs ist wie Odysseus nach Ithaka. Nicht umsonst hat er sich bei seiner Reise Descartes und Miller, einen Philosophen und einen Erzähler, zu Lotsen erwählt.
   Auch wenn wir in den „Ulysse“-Serien eine Abkehr vom Prinzip der orthogonalen Bildentwicklung beobachten und ihre Entstehung sich ganz anders vollzieht, sie weniger rational und kontrolliert zustande kommen, ist das Prinzip ihrer Genese doch nicht weniger klar zu beschreiben als das der früheren Werke. Und ihre suggestive Wirkung auf den Betrachter, die verführerische Kraft der Malerei, die Intensität von Farbe und Form scheinen in ihnen eher noch gesteigert. Wie das? Vielleicht weil Jobst Tilmann in den vier Werkreihen des „Ulysse“, (die er nach den von ihm gewählten Bildformaten unterscheidet), sich stärker als je zuvor in seiner Kunst auf die Herrschaft des drängenden Impulses, der plötzlichen Eingebung und des spontanen Gefühl verlässt. Gegen das Orthogonale, Strenge und Gegliederte setzt er nun das Nicht-Orthogonale, Gezackte und Ungegliederte. Gegenüber dem Primat der Ordnung in den früheren Werken scheint jetzt der Zufall der Vater der Komposition zu sein. Der graue Umriss, ob positiv oder negativ, mit denen Tilmann Formen aus der Farbe herausarbeitet, folgt eher einem Reflex als einem Kalkül. Der Regisseur der neuen Bilder ist viel stärker das Unterbewusstsein des Künstlers als sein Bewusstsein. An dieser Unterscheidung hängt mehr als ein trockener Begriffsformalismus. Da geht es um die Befreiung von Gefühlen und Energien, die in der Vergangenheit von einem kühl kalkulierenden Verstand in Schach gehalten wurden. Schaut man auf das Gesamtwerk des Künstlers, ist der Aufbruch nicht vom Himmel gefallen. Neuorientierungen deuten sich zuletzt schon in den planerischen Bildern an. In der Serie „On s´arrange toujours“ unterwandern unregelmäßige Farbflecken das orthogonale Raster, ohne es indes radikal in Frage zu stellen. In „Saison“ stören graue, informelle Flecken die schachbrettartige Physiognomie des Bildes. In „Wie das Andere“ geraten die Felder in eine Art betrunkenen Taumel und in „Biografie für Andere“ verdunkeln Schwarzbeimischungen den strahlenden Auftritt der Primärfarben. 
   Vorbereitet werden die „Ulysse“-Serien durch Papierarbeiten und die Gemälde von „Terrain Vague“ (2005). Die Arbeiten auf Papier fertigt Tilmann an der deutschen Nordseeküste, mit der Musik der Natur, ihrem schnell wechselnden Licht und einem sich ständig verändernden Himmel, als basso continuo. Es scheint, als hätten die Eindrücke dort, die Einsicht, dass nichts so beständig ist wie der Wechsel, seinen Aufbruch hin zu den neuen Bildern befördert. Anfangs ist ihre Nähe zu den älteren Werken noch erkennbar. Allerdings bilden sich ihre Bildfelder schon nicht mehr durch Überlagerung und Verschmelzung. Sondern sie stehen nun unvermittelt nebeneinander und fransen an den Rändern aus wie eine gezackte Briefmarke. In noch relativ regelmäßiger Form hat hier das Unregelmäßige als Thema und Motiv seinen ersten Auftritt. Das ändert sich sehr schnell. In den kleinen Formaten der „Ulysse“-Serie werden die Formen erratischer und individueller. Mit grauer Farbe knetet und modelliert Tilmann ihre Morphologie aus den zuvor aufgetragenen Farbflecken heraus und trachtet danach, ihren spezifischen Charakter zu erfassen. Es geht dabei nicht, wie der Künstler immer wieder betont, um Formerfindung, sondern um Formerfassung. Nimmt man das wörtlich, dann ist seine künstlerische Methode ein eher aufdeckendes Verfahren. Eine malerische Hermeneutik, die nicht erfindet, sondern findet, und die zu Tage fördert, was schon immer da war. Das hat nichts Mystisches, sondern lässt an Goethes Wort denken von der „geprägten Form, die lebend sich entwickelt.“ Die Art dieser Formerfassung und Formgenese verkehrt die üblichen Verhältnisse von Bildgrund und Bildfigur. Das Motiv sitzt nicht auf der Farbe, sondern unter der modellierenden Graufarbe. Wobei Tilmann zwei Weisen der Motivbestimmung kultiviert. Einmal mittels der grauen Umrisslinie, sodann mit Hilfe exakt konturierter, grauer Farbseen, die ihre Motive sowohl von außen wie von innen bestimmen.
   Beide Weisen führen zu unterschiedlicher Dehnung der Farbe im Bild. Einmal treten die farbigen Flecken im Bild nach vorn, dann wieder zurück. Beides bewirkt, dass es eine Art Atmen im Bild gibt und eine Räumlichkeit in der flächigen Malerei. Atem und Tiefe geben den Bildern Volumen, eine fast plastische Körperlichkeit, die in den großen Leinwandformaten besonders ausgeprägt ist. Je nachdem, worauf sich der Motiv modellierende Gestus der grauen Farbe richtet, ob er als Linie oder Fläche wirkt, stets ändern sich dabei die Anmutungen der Bilder. Treten uns die Formen auf der Horizontale entgegen, denken wir an Landschaften, begegnen wir ihnen auf der Vertikale, denken wir an den Menschen. Das trifft sich mit den Vorstellungen von Piet Mondrian, der seine abstrakten Kompositionen auch nicht im semantikfreien Raum der Geometrie belassen wollte, sondern für den die Horizontale stets der Horizont, mithin die Welt war, und die Vertikale der Mensch. Der wurde zum Menschen, nachdem er sich aufgerichtet hatte und als homo ercetus auf zwei Beinen ging. Mondrians Verweis auf Mensch und Welt trifft sich mit Tilmanns Titeln, „Ulysse“ und „Terrain vague“. Das unsichere Terrain, das hier laut des wiederum französischen Werktitels in den Bildern erkundet wird, ist in mehrfacher Weise eine schöne Metapher für die neuen Werke des Künstlers. Vage, im Sinne von ungewiss, ist hier von Anfang an anders als bei den früheren Bildern jedes Werk, das der Künstler in Angriff nimmt, weil die Strategie seiner Verfertigung nicht mehr vorprogrammiert ist. Und vage, im Sinne von ungewiss, sind auch die Farb- und Formlandschaften der neuen Bilder. Dabei sind sie äußerst evokativ. So ungewiss die Reise des Odysseus ist, so gewiss ist am Ende seine Heimkehr. Nicht anders geht es mit den „Ulysse“-Bildern von Jobst Tilmann. Sie haben heimgefunden in den Schoß einer Malerei, die gleichermaßen sinnlich und rational ist. Damit erzählen sie nicht nur von Odysseus, sondern vom Menschen überhaupt.

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