Heinz Höfchen im Katalog VOYAGE, 2002

Tilmann: Sein künstlerisches Imago

"In der Küche wird nichts erfunden! Die Grundzutaten sind immer die gleichen: Geflügel, Fleisch, Gemüse ..." Diesen bemerkenswerten Satz lässt Paul Bocuse im Vorwort seines Buches La cusine du marché eher beiläufig fallen, eben wie eine eh jedem klare Einsicht. Die Malerei ist das gleiche Metier: Leinwand, Pinsel, Farben sind die Konstanten, Acryl und Geschmacksverstärker die Auswüchse unserer Tage.

Ganz natürlich ergeben sich aus dem Vorhandenen, aus dem Wachsen der Dinge, aus den Traditionen, Entwicklungsschritte zu Neuem, das immer auch das Alte in sich birgt. Natürlich gibt es für die zeitgenössische Malerei das Vorbild und die Tradition der Konstruktiv-Konkreten Kunst von Kasimir Malevitch über Theo van Doesburg und Piet Mondrian bis heute.

Auch für das künstlerische Tun Jobst Tilmanns muss diese Vorbildhaftigkeit betont werden, wenngleich er kein in der Wolle gefärbter konkreter ist. Seine scheinbare Nähe zur konkreten Kunst ist eher eine brüderliche, man kennt sich fast zu gut, man steht sich nah, ist aber doch ganz eigen.

Im Gespräch mit Tilmann über Fixpunkte seiner Kunst erwähnt er bald Ellsworth Kelly, und tatsächlich erinnert der Betrachter schnell ein epochales Bild des Amerikaners, Colors for a large wall, entstanden 1951. Dieses aus 64 Farbteilen zusammengefügte Werk läßt als Errungenschaft jede Farbe einzeln durchatmen und erscheint deshalb weiter entwickelt gegenüber vergleichbaren Werken Hans Arps und Sophie Taeuber-Arps. Kelly bewunderte 1950 in Paris die dreißig Jahre zuvor entstandenen Schöpfungen der Arps, Jobst Tilmann bezieht sich auf Kelly und bricht in einem weiteren Schritt die Zusammenstellung von Farbkuben mit eigenen, überlagernden Strukturen auf. Für solchen Erfahrungshorizont steht beispielsweise auch Ad Reinhardt, ein weiterer Künstler der New Yorker Schule, dem Jobst Tilmann nahe steht, dessen Schaffen er schätzt. Und natürlich ist Cézanne, der späte Cézanne der Jahre 1900 bis 1906, der malerische Vorwurf für die Farbsetzungen Kellys und Reinhardts.Was dem Einen die Montagne Sainte-Victoire, ist dem Anderen der Mont Ventoux. Dabei ist Tilmann in seinen Überschreitungen, seinem Changieren der Farbsetzungen Cézanne wieder näher, als er es Kelly je war.

1982 wechselt Tilmann von der norddeutschen Tiefebene in die Provence, St. Restitut wird sein Wohnort. Dort erregen aufgegebene Steinbrüche (die der Tourist in dieser Gegend aus Les Baux kennt) sein Interesse, die Strukturen der Brechungen im Fels faszinieren ihn, die gebrochene Realität scheint mit seinem imago von Kunst kongruent. Eine durchaus vergleichbare Erfahrung machte dreißig Jahre zuvor Ellsworth Kelly: sein berühmtes Seine - Bild zeigt bei aller gelebten Geometrie "Kelly`s dependence on natural phenomena" (Diane Waldmann), eben die Möglichkeit, Naturformen als Ausgangspunkt konkreter Formfindung zu akzeptieren. Und das ist nicht wenig.

"Bin eigentlich Zeichner", sagt Tilmann, kein Wunder, hat er sich während der 90er Jahre doch fast ausschließlich der Tuschpinselzeichnung zugewandt. Wichtig ist ihm die Linie, die im Richtungswechsel um 90° zur Leinwandbindung wird, und in breiten Strichlagen zu Binnenraumstrukturen führt.

Jüngste Zeichnungen von 1998 zeigen im schwarz überlagerten Raum Feinheiten des Gefüges, die an vergleichbare Arbeiten etwa von Pierre Soulages denken lassen. Die völlige Raumöffnung in der Zeichnung ergibt schließlich einen Bildraum, einen Kastenraum, der die Hell-Dunkel Inszenierungen auf der Bühne des Michelangelo da Caravaggio in Erinnerung ruft. Caravaggio ist wohl Tilmanns wichtigstes imago: Der Wille zur Öffnung des Raumes, die Beherrschung von Licht und Dunkel, das intime Verhältnis zum Transzendenten, das zugleich unverfälschte Wirklichkeit ist, eben diese Charakteristika sind auch Jobst Tilmanns Kunst eigen. 

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