Michael Stoeber KATALOG ALLTAGSBILDER, 2001

„Alltagsbilder" nennt Jobst Tilmann seinen neuen Katalog, der Arbeiten aus insgesamt vier Werkserien versammelt, die in den letzten beiden Jahren entstanden sind. Wie sollen wir den Titel verstehen? Zeigt der Künstler Bilder vom Alltag? Schon ein flüchtiger Blick auf Tilmanns Arbeiten läßt die Annahme als abwegig erscheinen. Oder will der Titel bedeuten, daß die Bilder alltäglich sind? Aber was wäre dann das Besondere und Künstlerische an ihnen? Warum sollten wir uns die Mühe machen, sie anzusehen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen? Der Titel könnte unprätentiöser nicht sein, aber auch nicht provozierender. Er enthält eine Wahrheit, die nicht auf der Ebene der wortwörtlichen, sondern der übertragenen Bedeutung gesucht werden muß. Forschen wir in dieser Richtung, charakterisiert der von Tilmann gewählte Titel die Kunst des Künstlers auf treffende Weise. Denn die Faktur seiner Kunst folgt einer Strategie, wie sie lakonischer, lapidarer, „alltäglicher" nicht sein könnte. Und zugleich hat das, was wir in diesen Bildern als Gitter, als Struktur, als Lineament wahrnehmen, eine eigene Sprache, die auf ihre Weise die Welt nicht nur abbildet, sondern auch kommentiert. So kommt Tilmanns Kunst auf Umwegen im Alltag des Betrachters an. Es gibt von Tilmann ein schönes, kleines Künsterbuch aus dem Jahre 1991 mit dem Titel "Horizon Vertical". In diesem Buch steht bis auf zwei Zitate kein Text. Das eine Zitat stammt von dem französichen Philosophen René Descartes, das andere von dem amerikanischen Schriftsteller Henry Miller. Die Zitate hätten geschickter nicht gewählt sein können, um die Kunst von Tilmann zu charakterisieren. Das Zitat von Descartes stammt aus seinem „Dicsours de la méthode" und lautet: "Zerlege ein Problem in so viele Bestandteile, bis es verständlich wird." In diesem Satz verdichtet sich die Methode, der Tilmann als Künstler folgt. Der Maler ist insofern Kartesianer, als er nach festen Parametern arbeitet. Das Problem von Bildaufbau und Komposition, von Sujet und Thema, von Form und Farbe löst er durch eine List der Vernunft. Vernunft heißt bei Tilmann äußerste Beschränkung. Beschränkung darauf, das Bild in Felder zu teilen, sich für einen bestimmten Pinsel und damit für eine bestimmte Pinselbreite zu entscheiden, ihn in regelmäßigen und ruhigen, vertikalen und horzontalen Bahnen über Papier oder Leinwand zu führen, Bahnen und Felder mehr oder weniger genau einzuhalten, sich beim Farbauftrag auf die Primärfarben plus Weißbeimischung in unterschiedlicher Konzentration zu beschränken und dabei verschiedene Farbschichten übereinander zu legen. Gerade diese Beschränkung ist es, die den Künstler zu immer neuen Ergebnissen führt. Tilmann beherrscht die Kunst der Reduktion, die das Komplexe im Einfachen entdeckt. Er ist ein Meister der subtilen Geste und der diskreten Intervention. Minimale Abweichungen und federleichte Irritationen bestimmen das Gewicht seiner Bilder. Das machen nicht zuletzt die hier vorgestellten vier Werkserien deutlich, die wie die Sätze einer Partitur aufeinander bezogen sind. Während die Strategie der orthogonalen Bildteilung sich wie ein Generalbaß durch alle vier Werkserien zieht, ist am Ende doch keine Werkeinheit wie die andere. Jede hat einen eigenen Rhythmus, ein eigenes Tempo, eine eigene Temperatur. Chronologisch stehen am Anfang dieser Partitur die Bilder aus der Werkserie „Tage und Nächte". Der Titel bringt eine fundamentale Dualität zum Ausdruck. Tag und Nacht, das ist mehr als nur der Wechsel von Licht und Dunkel. Kulturgeschichtlich steht die Polarität von Tag und Nacht für die Opposition von Sonne und Mond, für den Gegensatz von Sinn und Sinnlichkeit, für die Konfrontation eines männlichen und weiblichen Prinzips. Es wäre hier an Nietzsches trunkene Verse zu denken: „Oh, Mensch, gib acht, was spricht die tiefe Mitternacht, die Nacht ist tief und tiefer als der Tag gedacht. Weh spricht, vergeh, doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit." In Tilmanns „Tage und Nächte"-Bilder zieht diese Opposition ein durch diskrete, aber wesentliche Differenzen unter den Viertelteilungen. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Farbdichte und Farbintensität, nicht nur durch die unterschiedlichen Grade ihrer Transparenz und durch ihre Hell-Dunkel Gegensätze, sondern ihre wechselnden Erscheinungsformen lösen im Betrachter auch unterschiedliche Anmutungen aus. Die emotionale Qualität der Felder gewinnt metaphorischen Status. Ihre Antinomien liest der Betrachter nicht nur auf der paradigmatischen Ebene des einzelnen Werkes, sondern noch deutlicher auf der syntagmatischen Achse der gesamten Bilderfolge. In der darauffolgenden Werkserie der „Besserwisser" ändert Tilmann sein Teilungsprinzip. Er beschränkt sich auf vertikale Divisionen. Statt eines Neben- und Übereinanders wie in den „Tagen und Nächten" gibt es nur noch ein Nebeneinander. Die Vertikale bringt ein anthropomorhes Element ins Spiel, das auch der Titel reflektiert. Die Vertikale ist ein zeichenhaftes Bild des Menschen. Sie erzählt nicht nur von subjektiver Haltung und Perspektive, sondern auch von der Art seiner Situierung in der Welt. Die Horizontale ist dagegen ein zeichenhaftes Bild der Erde. Sie bringt Welt, Zeit und Ausdehnung in Anschlag. Während zunächst die starke und lustvolle Farbigkeit der „Besserwisser"-Bilder ins Auge fällt, beobachten wir auch unter ihnen subtile Abweichungen in Dichte, Textur und Struktur. Dabei gewinnt man den Eindruck, daß die Felder untereinander wechselnde Allianzen eingehen, und einzelne den Versuch machen, sich auf Kosten anderer zu profilieren, es „besser zu wissen". Auch hier formieren sich die abstrakten Strukturen der Tilmann-Bilder zur Parabel der condition humaine. Kaum weniger auf den Menschen gemünzt, klingt der Titel der dritten Serie, „Nervensache". In dieser Bildreihe verschränkt der Künstler ganz unterschiedliche Teilungsprinzipien. Horizontale und vertikale Teilungen finden sich neben der Aufteilung der Bildfläche in Quadrate unterschiedlicher Anzahl. Der Kontrast zu der starken Farbigkeit der vorangehenden Bildserie der „Besserwisser" könnte auffälliger nicht sein. Die manchmal fast monochrom wirkenden Werke der „Nervensache" konzentrieren sich auf Kombinationen der Nichtfarben Schwarz und Weiß plus einer einzigen Farbe: Gelb. Es geht in den Arbeiten mehr um Struktur- als um Farbvariationen. In der „Nervensache 1" zieht der Künstler entgegen seiner sonstigen Gewohnheit die Farbbahnen nicht durch, sondern bricht abrupt ab und setzt neu an. Die kurzen, spröden und trockenen Pinselzüge vermitteln den Eindruck einer vibrierenden, nervösen Oberflächenerrregtheit des Bildes. Man meint in den Strukturen, die Synapsen, die Schaltstellen blank liegender Nervenbahnen, zu sehen. In „Nervensache 6" formieren sich die in den vorangehenden Bildern der Serie zwischen einer horizontalen und vertikalen Ordnung unentschieden oszillierenden Arbeiten zu einer festen Struktur von Ouadraten. Aber in den folgenden Bildern gibt es Regelverstöße, die nicht nur in der Handschriftlichkeit der Tilmann-Werke begründet liegen. Diese Handschriftlichkeit hat ja auch schon in den Werken der Vergangenheit stets ein unordentliches, verunsicherndes, subjektives Moment in die kühle, rationale, orhogonale Ordnung seiner Bilder gebracht. Jetzt beobachten wir ein vereinzeltes Ausgreifen der weißen oder gelben Felder auf die Nachbarfelder, das klar anarchische Züge trägt und in Zusammenhang mit dem Titel „Nervensache" an ein Wort von Thomas Bernhard denken läßt: „Das Gehirn ist ein Staatsgebilde. Plötzlich herrscht Anarchie." Dieses anarchische, willkürliche Element drängt ganz unübersehbar in der letzten Arbeit der Serie, „Nervensache 10", in den Vordergrund, wenn die gelben Felder sich völlig ohne jedes Ordnungsprinzip in die Struktur der schwarz-weißen Felder drängen. Die Rückgewinnung dieser verloren gegangenen Ordnung stellen die Werke der letzten Serie dar mit dem Titel „On s´arrange toujours". Auf den ersten Blick indes hat man keineswegs diesen Eindruck, da Tilmann hier offensiv und partiell in schon informeller Weise mit den Primärfarben operiert, die zum Grundinventar seiner Bilder gehören. In einem ersten Schritt setzt er jeweils zwei rote, zwei gelbe und zwei blaue, annähernd quadratisch wirkende Flecken auf die Leinwand. Ihre Plazierung verdankt sich einem intuitiven Impuls, dennoch sind sie so gesetzt, daß sich um sie herum wieder eine orthogonale Struktur entwickeln kann. Tilmann verbindet die dichten, farbigen Flecken auf reizvolle Weise mit seinen weißen und schwarzen Quadraten, die indes noch keiner geplanten Ordnung folgen. Das ändert sich in den folgenden Arbeiten.. In „On s´arrange toujours 2" ist die selbst auferlegte Vorgabe des Künstlers, daß in einer vertikalen Reihe nicht mehr als zwei schwarze und ein weißes Feld besetzt sein dürfen. Zudem dürfen auch keine zwei schwarzen Felder aufeinanderfolgen. Das führt teilweise zu Feldern, in denen die unbehandelte Leinwand sich reizvoll in die Farbkomposition der Bilder einbringt. Die unbehandelten Felder in diesen Bildern erinnern an die Leerstellen im System der Sprache. Seit dem „Cours de linguistique générale" des Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure wissen wir, daß die Sprache ein System von Werten ist, nicht eine Ansammlung substantiell definierter Elemente, und daß diese Werte durch ihre negativen, nicht durch ihre positiven Eigenschaften definiert sind. Sprache ist nicht mit Sprechen zu verwechseln. So wie die Sprache als System die Vielzahl unserer Sprechakte ermöglicht, so generiert das bildnerische System, von dem Jobst Tilmann ausgeht, eine Vielzahl von Bildern. Bestimmte, wenige Parameter fächern sich auf zu einer Vielzahl bildnerischer Äußerungen. Es ist wie in den Sprachtheorien der Strukturalisten von Saussure bis Chomsky, ein Gepflecht binärer Regeln erzeugt eine komplexe Sprachlandschaft. Oder denken wir an die Funktionsweise des Computers. Oder einfach an das Schachspiel, wenige Figurfunktionen erlauben eine Unendlichkeit von Partien. Aber das ist nur die Beschreibung des Systems. Natürlich muß man auch sprechen können. Und damit komme ich zum zweiten Zitat aus Tilmanns Künstlerbuch, dem Zitat von Henry Miller. Es lautet: "Es geht nicht um die Worte selbst, sondern wie sie nebeneinandergestellt sind - darin offenbart sich der schöpferische Geist. Welche Worte er zusammenstellt und wie er sie zusammenstellt und was sie heraufbeschwören - und nicht, was sie sagen." Anders gesagt: es geht um Suggestion, um Magie, um Verführung. Und das gelingt Tilmann mit einem tour de main, mit einer Drehung der Hand, so wie bei einem Zauberer, aus dessen weiten Mantelärmeln plötzlich weiße Tauben schlüpfen. Dabei ist nichts Geheimnisvolles an seiner Bildproduktion. Er stellt uns sein System der Bildgenerierung klar vor Augen. Aber es ist wie mit der Sprache. Auch Miller und alle seine wunderbaren Schriftstellerkollegen benutzen dasselbe Lexikon wie wir: nur was sie mit den Wörtern anzustellen wissen, das übersteigt immer wieder unsere Vorstellungskraft. Man spricht im Zeitalter der Computer soviel von virtuellen Systemen. Das Alphabet ist das älteste und wunderschönste virtuelle System, das ich kenne. Nicht anders ist es mit Pinsel, Leinwand und Farbe. Es geht um Magie und Verführung, aber natürlich geht es genauso um Klarheit und Deutlichkeit. Descartes und Miller, der Philosoph und der Erzähler, nicht von ungefähr hat Jobst Tilmann, der Maler, sie sich zu Paten seiner Kunst erkoren.

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