Michael Stoeber im Katalog VOYAGE, 2002

Die Signatur des Schönen

Die Bilder von Jobst Tilmann plädieren unprätentiös, sehr leise, aber sehr nachdrücklich, dafür, die Schönheit in den Mittelpunkt der ästhetischen Reflexion zu stellen. Schönheit, recht verstanden, ist alles andere als unpolitisch. Im Gegenteil, sie kann ein mächtiges Motiv sein, dass der Mensch sich ändert und mit ihm die Gesellschaft. Schönheit ist nicht zu verwechseln mit Dekoration. Dekoration ist immer affirmativ, Schönheit ist kritisch. Dekoration bestätigt die Verhältnisse wie sie sind, Schönheit stellt sie in Frage. Dekoration schmückt, Schönheit bewegt. Die Schönheit in der Kunst ist stets ein Gleichnis. Sie erzählt von Utopia und vom Vorschein einer besseren Wirklichkeit. Adornos Satz trifft hier zu, auf das Gedicht gemünzt, aber darum nicht weniger wahr für die Bildende Kunst. Was der Gehalt des Kunstwerks sei, "das zu bestimmen", erklärte der Denker, "verlangt Wissen vom Inneren des Werkes wie von der Gesellschaft draussen."

Tilmanns Bilder sind schön, weil sie in ihrer Faktur einem humanen Mass folgen. Sie orientieren sich in gleicher Weise an objektiven und subjektiven Kriterien und führen sie zusammen. Sie inszenieren einen Traum, den wir alle träumen. Es ist der Traum eines gelingenden, nicht entfremdeten Lebens. Es ist die Engführung von Wunsch und Wirklichkeit, von einem erfolgreichen in der Weltsein und zugleich mit der Weltsein. Dieser Traum zieht in Tilmanns Bilder ein durch eine geglückte Allianz von Kalkül und Ekstase. Tilmann kalkuliert seine Bilder, er hat ein genaues und sehr klares Konzept von dem, was er machen will. Präzise Vorentscheidungen legen Zeugnis davon ab. Da ist zuerst die Wahl des Mediums, Tusche und Papier oder Leinwand und Acryl oder Holz und Acryl. Dann folgen die Entscheidungen für ein bestimmtes Bildformat und eine bestimmte Farbe. Tilmann wählt immer nur unter den Primärfarben aus, die durch Weissbeimischungen, durch Lösungen und Schichtungen zu unterschiedlicher Intensität vermalt werden. Das entspricht seinem Kodex, die Parameter seiner Kunst durchsichtig und nachvollziehbar zu halten. Schliesslich folgt die Wahl eines bestimmten Pinsels. Sein Haar, seine Breite und Dichte sind genauso wichtig wie Tusche, Farbe und Malgrund.

Tilmann steht, historisch gesehen, mit der Konzentration auf das Medium Tusche und die lasierende Farbe in der Tradition der grossen chinesischen und japanischen Tuschemaler. Lesen wir in den Traktaten der Theoretiker dieser Kunst, lernen wir, dass sie Tusche und Pinsel wie lebendige Wesen betrachten.

Vom Genius des Künstlers geführt, haucht ihr Atem der Materie Leben ein. Jeder Pinselstrich und jede Tuschenuance repräsentieren. Sie stehen für Emotionen wie Ideen, sie denken und fühlen. Insofern stellen diese Bilder den Kosmos nach und bauen zugleich einen eigenen Kosmos auf. Jede Wolke und jede Welle, jeder Berg und jeder Baum hat ein geistiges Substrat. Und genauso geht es mit den Bildern von Jobst Tilmann. Was wir dort auf den ersten Blick, in grösster Lakonie gemalt, als Gitter, als Struktur, als Lineament wahrnehmen, hat eine eigene Sprache, die auf ihre Weise, die Welt nicht nur abbildet, sondern auch kommentiert.

Sobald Tilmann sich für Bildgrund, Bildformat, für Tusche und Pinsel entschieden hat, geht er an die Arbeit. Selten oder nie braucht der Künstler Skizzen oder Vorstudien. Es kann sein, dass er einmal flüchtig auf ein Blatt Papier wirft, wohin die Reise des Malens gehen soll, was in seinem Falle heisst, ob er von der Mitte des Blattes aus mit seinem bildnerischen Werk beginnt oder vom oberen oder unteren, vom linken oder rechten Bildrand aus, wie er sich die Abstände seiner Pinselbahnen denkt und wie das System der anvisierten, lasierenden Farbüberlagerungen. Tilmann braucht keine Vorstudien, aber nicht, weil das bildnerische Tun so einfach wäre - das ist es nicht. Es erfordert im Gegenteil höchste Konzentration, die keine Ablenkung duldet. Bei der Arbeit gibt es, einmal angefangen, eine Vertiefung, ein Gerichtetsein auf den Malakt, eine Intentionalität, die mystischer Versenkung nicht unähnlich sind. Das ist auch der Augenblick der eingangs erwähnten Ekstase. Eine kalkulierte Ekstase. Ein Aus-sich-Heraustreten, wo das ganze Sein des Künstlers identisch wird mit dem künstlerischen Akt.

Der Künstler braucht keine Vorstudien, weil er, um es mit einer linguistischen Anleihe zu sagen, Grammatik und Lexikon seiner Bilder im Kopf trägt. So wie die Sprache als System die Vielzahl unserer Sprechakte erlaubt, so generiert das bildnerische System von Jobst Tilmann eine Vielzahl möglicher Bilder. Dieses System ist in gewisser Weise seine Erfindung, das er sich patentieren lassen könnte wie Yves Klein sein berühmtes Blau.
Bestimmte, wenige Parameter, lassen sich auffächern zu einer unendlichen Zahl bildnerischer Äusserungen. Es ist wie in den Sprachtheorien der Strukturalisten, von Saussure bis Chomsky: ein Gepflecht binärer Regeln erzeugt eine komplexe Sprachlandschaft. Oder wie bei der Funktionsweise eines Computers. Oder wie bei einem Schachspiel: wenige Figurfunktionen erlauben eine Unendlichkeit von Partien.

Obwohl Tilmanns Arbeiten bei ihren wechselnden Allianzen und Bildteilungen immer dem orthogonalen Prinzip gehorchen, gewinnen sie ihre unverwechselbare Signatur durch die Handschrift des Künstlers. Sie führt dazu, dass das Gleiche ungleich und das ähnliche unähnlich wird. Sie führt zu den Unschärferelationen der Bilder. In seiner Handschrift scheint die Physiognomie des Autors auf, ohne recht eigentlich da zu sein. Und doch ist sie da. Sie ist da in der Manufaktur - ganz wörtlich zu verstehen als das von Hand Gemachte - iunregelmässiger Ränder und leicht verzogener Linien, in der unterschiedlichen Transparenz der Farbbahnen und im satten Ansatz eines allmählich sich ausdünnenden Pinselzugs. Die subjektive Signatur ist die Konterbande, die Tilmann gegen den strukturalen Anschein in seine Bilder schmuggelt. Sie konterkariert das Gerede der Kritik von der Konkreten Kunst, ein Etikett, das ebensowenig zu seinem Werk passt wie das der Minimal Art.

Dekoration bestätigt die Verhältnisse wie sie sind, Schönheit stellt sie in Frage. Dekoration schmückt, Schönheit bewegt. Die Schönheit in der Kunst ist stets ein Gleichnis. Sie erzählt von Utopia und vom Vorschein einer besseren Wirklichkeit. Adornos Satz trifft hier zu, auf das Gedicht gemünzt, aber darum nicht weniger wahr für die Bildende Kunst. Was der Gehalt des Kunstwerks sei, "das zu bestimmen", erklärte der Denker, "verlangt Wissen vom Inneren des Werkes wie von der Gesellschaft draussen."

Tilmanns Bilder sind schön, weil sie in ihrer Faktur einem humanen Mass folgen. Sie orientieren sich in gleicher Weise an objektiven und subjektiven Kriterien und führen sie zusammen. Sie inszenieren einen Traum, den wir alle träumen. Es ist der Traum eines gelingenden, nicht entfremdeten Lebens. Es ist die Engführung von Wunsch und Wirklichkeit, von einem erfolgreichen in der Weltsein und zugleich mit der Weltsein. Dieser Traum zieht in Tilmanns Bilder ein durch eine geglückte Allianz von Kalkül und Ekstase. Tilmann kalkuliert seine Bilder, er hat ein genaues und sehr klares Konzept von dem, was er machen will. Präzise Vorentscheidungen legen Zeugnis davon ab. Da ist zuerst die Wahl des Mediums, Tusche und Papier oder Leinwand und Acryl oder Holz und Acryl. Dann folgen die Entscheidungen für ein bestimmtes Bildformat und eine bestimmte Farbe. Tilmann wählt immer nur unter den Primärfarben aus, die durch Weissbeimischungen, durch Lösungen und Schichtungen zu unterschiedlicher Intensität vermalt werden. Das entspricht seinem Kodex, die Parameter seiner Kunst durchsichtig und nachvollziehbar zu halten. Schliesslich folgt die Wahl eines bestimmten Pinsels. Sein Haar, seine Breite und Dichte sind genauso wichtig wie Tusche, Farbe und Malgrund.

Tilmann steht, historisch gesehen, mit der Konzentration auf das Medium Tusche und die lasierende Farbe in der Tradition der grossen chinesischen und japanischen Tuschemaler. Lesen wir in den Traktaten der Theoretiker dieser Kunst, lernen wir, dass sie Tusche und Pinsel wie lebendige Wesen betrachten.

Vom Genius des Künstlers geführt, haucht ihr Atem der Materie Leben ein. Jeder Pinselstrich und jede Tuschenuance repräsentieren. Sie stehen für Emotionen wie Ideen, sie denken und fühlen. Insofern stellen diese Bilder den Kosmos nach und bauen zugleich einen eigenen Kosmos auf. Jede Wolke und jede Welle, jeder Berg und jeder Baum hat ein geistiges Substrat. Und genauso geht es mit den Bildern von Jobst Tilmann. Was wir dort auf den ersten Blick, in grösster Lakonie gemalt, als Gitter, als Struktur, als Lineament wahrnehmen, hat eine eigene Sprache, die auf ihre Weise, die Welt nicht nur abbildet, sondern auch kommentiert.

Sobald Tilmann sich für Bildgrund, Bildformat, für Tusche und Pinsel entschieden hat, geht er an die Arbeit. Selten oder nie braucht der Künstler Skizzen oder Vorstudien. Es kann sein, dass er einmal flüchtig auf ein Blatt Papier wirft, wohin die Reise des Malens gehen soll, was in seinem Falle heisst, ob er von der Mitte des Blattes aus mit seinem bildnerischen Werk beginnt oder vom oberen oder unteren, vom linken oder rechten Bildrand aus, wie er sich die Abstände seiner Pinselbahnen denkt und wie das System der anvisierten, lasierenden Farbüberlagerungen. Tilmann braucht keine Vorstudien, aber nicht, weil das bildnerische Tun so einfach wäre - das ist es nicht. Es erfordert im Gegenteil höchste Konzentration, die keine Ablenkung duldet. Bei der Arbeit gibt es, einmal angefangen, eine Vertiefung, ein Gerichtetsein auf den Malakt, eine Intentionalität, die mystischer Versenkung nicht unähnlich sind. Das ist auch der Augenblick der eingangs erwähnten Ekstase. Eine kalkulierte Ekstase. Ein Aus-sich-Heraustreten, wo das ganze Sein des Künstlers identisch wird mit dem künstlerischen Akt.

Der Künstler braucht keine Vorstudien, weil er, um es mit einer linguistischen Anleihe zu sagen, Grammatik und Lexikon seiner Bilder im Kopf trägt. So wie die Sprache als System die Vielzahl unserer Sprechakte erlaubt, so generiert das bildnerische System von Jobst Tilmann eine Vielzahl möglicher Bilder. Dieses System ist in gewisser Weise seine Erfindung, das er sich patentieren lassen könnte wie Yves Klein sein berühmtes Blau.
Bestimmte, wenige Parameter, lassen sich auffächern zu einer unendlichen Zahl bildnerischer Äusserungen. Es ist wie in den Sprachtheorien der Strukturalisten, von Saussure bis Chomsky: ein Gepflecht binärer Regeln erzeugt eine komplexe Sprachlandschaft. Oder wie bei der Funktionsweise eines Computers. Oder wie bei einem Schachspiel: wenige Figurfunktionen erlauben eine Unendlichkeit von Partien.

Obwohl Tilmanns Arbeiten bei ihren wechselnden Allianzen und Bildteilungen immer dem orthogonalen Prinzip gehorchen, gewinnen sie ihre unverwechselbare Signatur durch die Handschrift des Künstlers. Sie führt dazu, dass das Gleiche ungleich und das ähnliche unähnlich wird. Sie führt zu den Unschärferelationen der Bilder. In seiner Handschrift scheint die Physiognomie des Autors auf, ohne recht eigentlich da zu sein. Und doch ist sie da. Sie ist da in der Manufaktur - ganz wörtlich zu verstehen als das von Hand Gemachte - iunregelmässiger Ränder und leicht verzogener Linien, in der unterschiedlichen Transparenz der Farbbahnen und im satten Ansatz eines allmählich sich ausdünnenden Pinselzugs. Die subjektive Signatur ist die Konterbande, die Tilmann gegen den strukturalen Anschein in seine Bilder schmuggelt. Sie konterkariert das Gerede der Kritik von der Konkreten Kunst, ein Etikett, das ebensowenig zu seinem Werk passt wie das der Minimal Art.

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