Michael Stoeber, Hannover zur Eröffnung der Ausstellung INTERCALAGES in der Galerie Viktoria Hoffmann Hannover, 19.03.1999

Die neuen Bilder Tilmanns plädieren völlig unprätentiös, d.h. sehr leise, sehr nachdrücklich, dafür, die Schönheit wieder in den Mittelpunkt der Reflexion zu stellen - einfach weil sie schön sind.
Kant hat Schönheit als das sinnliche Scheinen einer Idee bestimmt. Auch das spielt in Tilmanns Bildern, wie wir noch sehen werden, eine große Rolle. Schönheit ist ja heute eine sehr umstrittene Vorstellung in der Kunst. Wahrscheinlich ist sie vielen so suspekt, weil sie das revolutionäre Potential nicht sehen, das in ihr steckt.
Einer, der das in diesem Jahrhundert wie kein anderer erkannt hat, war der Amerikaner James Lee Byars. Kein Wunder, daß er ein enger Freund von Joseph Beuys war. Wer erinnert sich nicht an die berührende Aufnahme des Künstlerfotografen Benjamin Katz, welche die beiden hingelagert, einander zugewandt, im selbstversunkenen Gespräch zeigt mitten im Trubel einer documenta oder während der Metropolis-Ausstellung in Berlin. Beuys mit dem großen Eurasienstab, Pastor, Schäfer und Prediger, Byars wie so oft das Gesicht verhüllt von einem schwarzen Seidentuch, auf dem Kopf einen weichen Stetson, eine zeitgenössische, amerikanische Variante des blinden, griechischen Sehers Teiresias.
Schönheit recht verstanden, ist alles andere als unpolitisch. Im Gegenteil, sie kann ein mächtiges movens sein, um sich selbst zu ändern und so letztlich auch die Gesellschaft. Allerdings ist die Schönheit, von der ich spreche, nicht zu verwechseln mit Dekoration. Dekoration ist immer affirmativ. Dekoration bestätigt die Verhältnisse wie sie sind, Schönheit stellt sie in Frage. Dekoration schmückt, was ist; Schönheit spricht von dem was sein sollte. Dekoration richtet uns ein, Schönheit bringt uns in Bewegung.
Die Schönheit in der Kunst ist immer ein Gleichnis, das von Utopia erzählt und vom Vorschein einer besseren Wirklichkeit. Adornos Satz trifft hier zu, auf das Gedicht gemünzt, aber darum nicht weniger wahr für die bildende Kunst. Was der Gehalt des Kunstwerks sei, „das zu bestimmen“, meinte der Meister, „verlangt Wissen vom Inneren der Kunstwerke wie von der Gesellschaft draußen.“
Tilmanns Bilder sind schön, weil sie in ihrer Faktur einem humanen Maß folgen. Sie orientieren sich sowohl an objektiven wie subjektiven Kriterien und führen sie gelingend zusammen. Insofernerleben wir hier einen Traum, den wir alle träumen. Es ist der Traum eines gelingenden, nicht durch die Welt und die anderen entfremdeten Lebens. Es ist die Engführung von Wunsch und Wirklichkeit, von einem erfolgreichen in der Welt sein und zugleich mit der Welt sein. Dieser Traum zieht in Tilmanns Bilder ein durch eine geglückte Allianz von Kalkül und Extase. Genau das scheint mir in diesen Arbeiten zu passieren. Tilmann kalkuliert seine Bilder, er hat ein genaues und sehr klares Konzept von dem, was er machen will. Präzise Vorentscheidungen legen Zeugnis davon ab.

Die Wahl des Mediums, dann die Wahl eines bestimmten Bildformats, weiter die Entscheidung für die Farbe, die durch unterschiedliche Lösungen und Schichtungen zu unterschiedlicher Intensität vermalt wird, schließlich die Wahl eines bestimmten Pinsels.
Der Pinsel, seine Breite und Dichte, das Haar sind genauso wichtig wie die Tusche und der Malgrund.
Tilmann steht, historisch gesehen, mit der Konzentration auf dieses Medium in der Tradition der großen chinesischen und japanischen Tuschemaler. Lesen wir in den Traktaten der Theoretiker dieser Kunst, lernen wir, daß sie Tusche und Pinsel wie lebende Wesen betrachten.
Vom Genius des Künstlers geführt, haucht ihr Atem der Materie Leben ein.
Jeder Pinselstrich und jede Tuschenuance repräsentiert. Sie stehen für eine Emotion oder eine Idee, eine Art zu denken und zu fühlen. Insofern stellen die Bilder der Künstler den Kosmos nach und bauen zugleich ihren eigenen Kosmos auf. Jede Wolke und jede Welle, jeder Berg und jeder Baum hat ein geistiges Substrat. Und genauso, denke ich, geht es mit den Bildern Jobst Tilmanns. Was wir hier auf den ersten Blick in größter Lakonie gemalt, als Gitter, als Struktur, als Lineament wahrnehmen ist eine eigene Sprache, die auf ihre Weise die Welt nicht nur abbildet, sondern auch kommentiert.
Sobald Tilmann sich für Bildgrund, Bildformat, für Farbe und Pinsel entschieden hat, geht er an die Arbeit. Selten oder nie braucht der Künstler Skizzen oder Vorstudien. Kann sein, daß er einmal flüchtig auf ein Blatt Papier wirft, wohin die Reise des Malens gehen soll, was in seinem Falle heißt, ob er von der Mitte des Blattes aus mit seinem bildnerischen Werk beginnt, vom oberen oder unteren oder vom linken oder rechten Bildrand und wie er sich die Abstände seiner Pinselbahnen denkt und wie das System der antizipierten Farbüberlagerungen. Tilmann braucht keine Vorstudien, aber nicht, weil das bildnerische Tun so einfach wäre - das ist es nicht, und es erfordert im Gegenteil höchste Konzentration, die keine Ablenkung duldet. Bei der Arbeit gibt es, einmal angefangen, eine Vertiefung, ein Gerichtetsein auf den Malakt, eine Intentionalität, die einer mystischen Versenkung nicht unähnlich sind. Das ist auch der Augenblick der anfangs erwähnten Extase. Eine kalkulierte Extase. Ein Aus-sich-heraustreten, wo das ganze Sein des Künstlers aufgeht und identisch wird mit dem künstlerischen Akt. Das ist nichts für Malbeamte. Täuschen wir uns nicht über die kühle Faktur der Werke: Tilmanns Bilder brennen.
Der Künstlerbraucht keine Vorstudien, weil er, wenn Sie mir die linguistische Anleihe gestatten, Grammatik und Lexikon seiner Bilder im Kopf trägt. So wie die Sprache als System die Vielzahl unserer Sprachakte erlaubt, so generiert das bildnerische System, von dem Jobst Tilmann ausgeht - ja, das in gewisser Weise seine Erfindung ist und das er sich patentieren lassen könnte wie Yves Klein sein berühmtes Blau - so generiert dieses bildnerische System eine Vielzahl möglicher Bilder. Es sind bestimmte, wenige Parameter, die sich zu einer unendlichen Zahl bildnerischer Äußerungen auffächern lassen. Denken Sie an die Sprachtheorien der Strukturalisten, von Saussure bis Chomsky; ein Geflecht binärer Regeln erzeugt ein komplexes Sprachsystem. Oder denken Sie an die Funktionsweise des Computers. Oder einfach an das Schachspiel: wenige Figurfunktionen erlauben eine Unendlichkeit an Partien.
Für Tilmann sind die Grenzen seines Blattes oder seiner Leinwand auch die Grenzen seiner künstlerischen Welt. Er respektiert sie so sorgfältig wie die Chinesen das einst taten. Er legt seinen Malgrund auf den Boden oder hängt ihn an die Wand, er dreht ihn manchmal nach allen Seiten und setzt die ganze Länge des Arms, die Kraft des ganzen Körpers ein, um ihn zu bearbeiten. Aber er geht nicht darüberhinaus, um etwa noch die Kanten oder den Rahmen seiner Bilder einzubeziehen. Kein Versuch einer donquijotesken Transzendierung. Für Tilmann ist das Bild wie in der Renaissance Fenster zur Welt, nicht die Welt selbst. Das ist ein schönes Memento, wenn wir schon von binären Formeln reden. Auch die Monitore unserer Computer und Fernseher sollten aller Virtualität zum Trotz nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden.
Der Titel der Ausstellung ‘Intercalages’ bringt Tilmanns künstlerische Strategie auf den Punkt. Intercalages sind Einfügungen. Diese Einfügungen bestehen nicht oder jedenfalls nicht nur, wie man etwa meinen sollte, in der evidenten Zusammenführung zweier unterschiedlicher Ordnungen, die bei ihren wechselnden Allianzen und Bildteilungen immer dem orthogonalen Prinzip gehorchen;
Tilmanns eigentliche Einfügung - so will mir scheinen - ist die subjektive Handschrift.
Die subjektive Handschrift führt dazu, daß das Gleiche ungleich und das Ähnliche unähnlich wird. Sie führt zu den Unschärferelationen der Bilder.
Bei ihnen scheint die Physiognomie des Autors auf, ohne recht eigentlich da zu sein. Und doch ist sie da. Sie ist da in der Manufaktur - ganz wörtlich zu verstehen als das von Hand Gemachte - in der Manufaktur unregelmäßiger Ränder und leicht verzogener Linien, in der unterschiedlichen Transparenz der Farbbahnen und im satten Ansatz eines allmählich sich ausdünnenden Pinselzuges.
Diese subjektive Signatur ist die Conterbande, die Tilmann gegen den strukturalen Anschein in seine Bilder schmuggelt. Sie konterkarriert auch aufs Schönste das ganze Gerede von der konkreten Kunst, mit deren Etikett eine um Zuordnung bemühte Kunstkritik Tilmann zu vereinnahmen sucht. Dieses Etikett paßt ebensowenig zu dem Künstler wie das von der MinimalArt, die, wenn man so will, die vierzig Jahre später zur Welt gekommene Schwester der Konkreten Kunst ist. Eine kleine Anekdote mag das verdeutlichen: Als Ende der sechziger Jahre Carl Andre in einer New Yorker Galerie seine später berühmt gewordenen Bodenplatten ausstellte, suchten nicht nur die Besucher, sondern auch die Kunstkritiker erstaunt nach der Kunst.
Den Künstlern der Minimal Art ging es um ultimative, was heißen soll ideale Formen in der Kunst. Dieser Idealismus war nichts anderes als ein Neuplatonismus oder, wenn Sie so wollen, Cartesianismus. Die Erfassung der Welt de more geometrico, auf mathematisch-logische Weise. Der Mensch hat darin nichts zu suchen. Der Mensch hat Gefühle und ist unzuverlässig. Die Minimal Art, wie vor ihr schon die konkrete Kunst, suchte das Subjekt als unzuverlässige und schwer zu kalkulierende Größe aus ihren artistischen Gleichungen zu eliminieren. Jobst Tilmann bringt es uns wieder zurück.

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