Dr. Uwe Schramm zur Ausstellung JOBST TILMANN SONDAGES Dortmunder Kunstverein 1997

„Kunst“, schrieb einmal der französische Philosoph Alain, „ist eine Form des Tuns, nicht des Denkens. Dieser Zug ist der offenbarste und zugleich verborgenste von allen. Denn es ist üblich, den Plan eines Werkes zu diskutieren und sich zu fragen, was der Künstler sich vorgesetzt hat, um es dann mit dem zu vergleichen, was ihm davon zu realisieren gelungen ist. Zugegeben, daß es kein Werk ohne Plan gibt; aber was Kunst ist an ihm, hängt allein von der Ausführung ab und zeigt sich auch dem Künstler selbst erst in der Ausführung. Ob es gut oder schlecht ausfällt, ist damit nicht entschieden, denn diese Methode kann zu beidem führen; aber sobald das, was man gemacht hat, über das, was man machen wollte, hinausgeht, wird man immer etwas Schönes machen.“
Bevor Jobst Tilmann zu Pinsel und Tusche greift oder ein Kreidestück zur Hand nimmt, um mit einem einzigen Strich, einer einzelnen Linie das Zeichenpapier auf eine ganz individuelle Weise zu strukturieren, ist für ihn das Ergebnis seines Tuns in weiten Teilen unbekannt. Zwar lassen sich bestimmte Momente im vorhinein kalkulieren, die Bildgestalt an sich definiert sich allerdings erst im prozeßhaften Tun. Der Beginn des Arbeitens offenbart sich als Anfang einer Wegstrecke, die zur Auslotung, zur Erforschung eines in seinen Möglichkeiten unbekannten Terrains führt. Was dem Künstler am Ende vor Augen steht, ist das Produkt aus gewissen Unwägbarkeiten und vorab getroffenen Entscheidungen.
Ein risikohaftes Unterfangen - ganz zweifellos. Aber auch ein wirksames Mittel, sich der eigenen Kreativität zu bedienen, auszubrechen aus kunsthistorisch determinierten Schranken, um den künstlerischen Impulsen freien Lauf zu lassen und Vorgewußtes, die Dominanz des Geistes aus dem Schaffensprozeß zu verbannen.
Beide Aspekte zusammen, die Synthese aus ungelenkten und unvorhersehbaren Prozessen und im voraus festgelegten Entscheidungen führen in die Grenzbereiche einer Kunst, die man gemeinhin als „konkret“ bezeichnet. Namen wie etwa Theo van Doesburg stehen für einen Kunstbegriff, der sich durch rein rationale Kriterien begründet. Ein Kunstwerk sollte zunächst im Geiste geplant und formal strukturiert werden, bevor es zur eigentlichen Ausführung gelangt. Losgelöst von jeglicher Gegenstandsnähe sollen die Darstellungsmittel der konkreten Kunst ausschließlich für sich selbst stehen. Eine Linie, eine Fläche, die Farbe meint nichts anderes als sich selbst. Jede weiterführende Interpretation würde über das Ziel hinausschießen und den Kern des künstlerischen Gedankens verfehlen.
Ähnliche Ansätze finden sich auch in der Kunst Jobst Tilmanns, die sich bei einem ersten, flüchtigen blick nahtlos in das enge Schema der konkreten Kunst einzufügen scheint. Sieht man aber genauer hin, so erscheint Tilmanns Malweise als eine eigenständige Position, die sich zwar in ihrer Grundausrichtung an den Vorgaben der „konkreten“ Kunst orientiert, im Kern jedoch über diese hinausweist. So sind auch Tilmanns Darstellungsmittel auf wenige Materialien begrenzt, die formale Struktur seiner Werke ist klar nachvollziehbar und nichts trübt ihren eigenständigen, autonomen Charakter. 
Tusche und Farbkreide, ein besonders saugfähiges Büttenpapier und zurechtgesägte Holzplatten zählen zu Tilmanns bevorzugten Materialien. Mit ihnen schafft der Künstler Gestaltungen, die trotz der Verknappung seiner Darstellungsmittel über ein Höchstmaß an spannungsreicher Komplexität verfügen. Sparsamkeit der Mittel führt hier keineswegs zu leicht überschaubaren, quasi im Vorbeigehen zu erfassenden Gestaltungsstrukturen. Vielmehr ergeben sich bei näherem Hinsehen und einer intensiven Betrachtung Strukturen, die mit einem abschweifenden Blick kaum zur Geltung kommen. Mit der Oberfläche dieser Bilder zeigt sich ein bewegtes Spiel von Helligkeitskontrasten und linearen Veränderungen.

Bedingt durch die variable Schnelligkeit und Stärke des Auftrags bilden sich lineare Strukturen neben eher flächigen Ausformungen, die Oberfläche gewinnt fast taktile Qualitäten, ja, man hat den Eindruck, als bestehe das Material dieser Bilder nicht aus Papier und Tusche, sondern aus einem dünnen, leicht transparenten Gewebe, das uns in Form von Verschlingungen und Verflechtungen entgegentritt. Die Tuschebahnen bewegen sich ausschließlich in horizontaler und vertikaler Richtung, der Entstehungsprozeß dieser Malerei bleibt für den Betrachter in sämtlichen Schritten nachvollziehbar. Der schwer zu kontrollierende Fluß der Tusche, ihre wechselnde Farbigkeit, der situationsabhängige Rhythmus der Armbewegung, mit der die Tusche auf das Zeichenblatt übertragen wird - dies alles wird vom Künstler toleriert und in den eigentlichen Bildentstehungsprozeß integriert. Am Schluß ist ein Bild entweder gelungen, oder aber mißraten - eine Kompromißlösung liegt außerhalb seiner Mentalität.
Die Vorgehensweise des Malers definiert sich durch mehrere, methodisch aufeinanderfolgende Schritte. Ein erster Schritt führt über die Festlegung des künstlerischen Handlungsspielraums durch die Eingrenzung des Bildfeldes mit exakt verlaufenden Kantenlinien. Innerhalb dieser Begrenzungen entwickelt sich ein dynamischer Gestaltungsprozeß, der seinen Ausgangspunkt in einer imaginären, einer angenommenen Mitte, nicht in einer meßbaren Mitte findet. Ausgehend von diesem Punkt begibt sich Tilmann daran, die Fläche des Bildfeldes durch den waagerechten Auftrag der Tusche in kleinere Flächenabschnitte zu untergliedern und so in der vorgegebenen Ordnung eine neue, künstlerisch erreichte Ordnung zu etablieren. Mit wechselnder Dynamik und einer schwankenden Stärke in Auftrag und farblicher Intensität reiht sich Tuschebahn an Tuschebahn.
Geringfügige Überschneidungen setzen dunkle Akzente innerhalb eines irisierenden Geflechts und die wechselnde Transparenz sorgt für ein faszinierendes Spiel aus farbigem Dunkel und lichtvoller Helle. Die Farbigkeit reicht von dunklen, tief klingenden Schwarztönen über lichtvolle Grauwerte voller Transparenz bis hin zu opaken Farbtönen.
Durch Drehung des Zeichenblattes entwickeln sich neue Formverbindungen. Die festgesetzten Ränder werden aber in keinem Fall überschritten und an jener Stelle, wo der breitfächige Pinselauftrag eine Überschreitung bewirken würde, findet die Komposition ihr vorläufiges Ende, um sich von einem anderen Bereich aus weiter fortzuentwickeln. So wird eine festgelegte Ordnung respektiert, und gleichzeitig entwickelt sich innerhalb ihrer Grenzen ein eigenständiges Ordnungsgefüge, das mit seinen charakteristischen Eigenschaften die individuelle Handschrift des Künstlers verrät.
Bei all dem wird deutlich, daß sich die Malerei Jobst Tilmanns kaum mehr in das festgefügte Schema der konkreten Kunst pressen läßt. Zwar ergeben sich nach wie vor gewisse Berührungspunkte hinsichtlich eines elementaren Zeichenrepertoires, hinsichtlich einer sparsamen Auswahl der Mittel und Materialien, jedoch liegen die wesentlichen Unterschiede in der Definition des Begriffes Komposition.
Die Malerei Tilmanns definiert sich nicht durch eine detaillierte geistige Planung, sondern Komposition bedeutet für ihn die Summe der im Entstehungsprozeß verborgenen Möglichkeiten bei einer im vorhinein festgelegten Reduktion auf elementare Mittel und Prinzipien. Im Mittelpunkt steht weder das geometrische Maß, noch ein konstruktives Kalkül. Statt dessen zählt für Tilmann in erster Linie die Schaffung eines ästhetischen Mehrwerts durch die Ausführung methodischer Schritte mit einem im vorhinein kaum zu kalkulierenden Resultat. Sein Maß ist das Maß der eigenen Körperreichweite, der dynamischen Armbewegung, das individuelle Augenmaß, das über die formale Qualität der Ausführung bestimmt. Damit begibt sich der Maler auf einen Weg, dessen Richtung für ihn zwar grob überschaubar ist, sich in seiner detaillierten Beschaffenheit jedoch erst mit dem Aufbruch und einer schrittweisen Auslotung zu erkennen gibt.
„Sondages“ - der französischsprachige Titel dieser Ausstellung mag auf diese elementaren Zusammenhänge verweisen. „Sondage“ - das bedeutet im Französischen soviel wie Probebohrung, Lotung, Befragung oder auch Ausforschung. Der Begriff „Sondieren“ ist nach dem Fremdwörterlexikon gleichbedeutend mit „vorsichtig erkunden, ausforschen, vorfühlen, das Gelände, die Lage erforschen“.
Und wirklich scheint sich mit diesen Worterklärungen die Malerei von Jobst Tilmann wirksam erschließen. Malerei formuliert sich hier als eine Art Grenzgängertum. Ihre sichtbaren Werte führen zurück auf die körperhafte Befindlichkeit des Künstlers, um damit seine Malerei als eine zutiefst individuelle Form der Selbstäußerung erscheinen zu lassen.

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