Dagmar Schmidt, Bochum Aus dem Katalog "GEGENÜBER", 1998

Jobst Tilmanns Tuschzeichnungen auf Papier und Holz konfrontieren in auffälliger Weise mit gegensätzlichen Eindrücken. Sie zeigen Strukturen, in denen ein hohes Maß an Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit zu herrschen scheint. Anfänglich nimmt man konstante Verhältnisse wahr, horizontale und vertikale Linienverläufe, die das Bildfeld in rechtwinklige Abschnitte zergliedern. Bei näherer Betrachtung verliert sich dieser Eindruck zugunsten eines deutlichen Hervortretens unregelmäßiger und schwankender Momente. Eine spürbare Spannung liegt in der Konkurrenz verschiedener Betrachtungsmöglichkeiten. Einerseits scheint es möglich, alle Bildelemente einer einfachen Systematik unterzuordnen, andererseits wird diese analytische Herangehensweise durch eine eigenwillige Präsenz individueller Erscheinungen in Fage gestellt, die dazu auffordern, das Bildfeld immer wieder ausschnittsweise und im Detail zu betrachten.
Die ambivalente Erscheinungsstruktur, die in den Werken von Jobst Tilmann zur Wirkung kommt, entspringt der Vermittlung unterschiedlicher Gestaltungsprinzipien. Im Enstehungsprozeß seiner Bilder verbindet sich ein Hang zur rationalen Ordnung mit einem starken Interesse an organischen Vorgängen, welches sich bereits in einer Sensibilität für die sinnliche Qualität des verarbeiteten Materials äußert. 
Die künstlerische Handlung beschränkt sich zunächst auf die konsequente Wiederholung einfachster Gestaltungselemente, die sich aus der geometrischen Grundform des Bildträgers ergeben. In gleichbleibender Manier zieht Tilmann Tuschebahnen, die senkrecht oder waagerecht das Bildformat durchlaufen. Diese Bahnen werden flächenfüllend möglichst eng nebeneinandergesetzt. Schichtenweise wird dieser Vorgang wiederholt, die zweite Ebene meist in einer der ersten entgegengesetzten Richtung. In vielen Arbeiten ensteht durch das Ineinandergreifen senkrechter und horizontaler Linienzüge ein deutlich wahrnehmbares Raster aus quadratisch zugeschnittenen Feldern. Wahlweise wird nur eine Hälfte des Bildfeldes bearbeitet oder Flächenabschnitte, die sich aus weiteren Halbierungen ergeben, der Pinsel gegen eine Schabnadel eingetauscht, die das Bildfeld mittels feiner linearer Ritzungen strukturiert. Durch eine strikte serielle Organisation erfolgt der Bildaufbau unabhängig von subjektiven Entscheidungen und innovativen Momenten. 
Jobst Tilmanns Bildsprache und Gestaltungsmethode stehen in der Tradition einer konstruktiven konkreten Kunst. Insbesondere setzt er sich mit dem Erbe der sogenannten Minimal Art auseinander. Im Unterschied zu deren Zielsetzung, den Betrachter mit einfachsten objektiven Sachverhalten zu konfrontieren, um die Erfahrung individueller und zeitlicher Momente auf selbsterzeugte Bewegungen während des Anschauungsprozesses zu beschränken, werden organische und zeitliche Dimensionen von Jobst Tilmann direkt in den Gestaltungsprozeß integriert. Unter Mitwirkung körperbestimmter und materialabhängiger Einflüsse, die als unkalkulierbare Faktoren die strenge Konzeption unterwandern, entsteht eine weiche Geometrie, eine vitale Struktur, die bewusst mit Schwankungen und Abweichungen arbeitet. 
Bereits die Festlegung des Bildformats wird durch körperliche Maßstäbe bestimmt. Die maximale Größe der bearbeiteten Formate bleibt auf den Bewegungsradius der Arme beschränkt. Der Gestaltungsablauf entwickelt sich grundsätzlich ohne Hilfsmittel, die konforme Bildelemente und regelmäßige Unterteilungen garantieren. Ein freihändiger Umgang mit Pinsel oder Schabnadel als auch eine unkontrollierbare Eigendynamik der Tusche verursachen schwankende, zum Teil gebrochene Linienverläufe. Die lineare Struktur und die innenliegenden Formen, die sich infolge minimaler Zwischenräume oder Überlappungen eng aneinandergesetzter Tuschebahnen herausbilden, zeugen gleichermaßen von einer Stabilität und Instabilität der Gestaltungsfaktoren. Insbesondere in den Randzonen der Bildfelder kommt es zu deutlichen Abweichungen aus den horizontalen und vertikalen Achsen, da die ausführende Armbewegung zunehmend schwerer zu steuern ist je weiter sie sich aus dem Körpermittelpunkt entfernt. Hier entstehen auch jene unregelmäßigen Flächenabschnitte, die als Reststücke einer lediglich durch das Augenmaß getätigten Einschätzung der verfügbaren Fläche verbleiben. Die rechtwinklige Form des Bildträgers bildet den Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich die Eigengesetzlichkeit eines organischen Prinzips artikuliert.
In der Ausführung einer auf Gleichmäßigkeit und symmetrische Flächenaufteilung bedachten Handlung treten Asymmetrien und Unregelmäßigkeiten auf, die weder absichtlich gesteuert, noch willentlich vermieden werden, sondern auf natürliche Weise entstehen. Durch den mehrschichtigen Aufbau der Bilder erhöht sich der Anteil unterschiedlicher Richtungsverläufe, Formbegrenzungen und Tonwerte innerhalb der strukturierten Fläche. Aufgrund der transparenten Eigenschaften der Tusche kommt es zu einer vielfätigen Interaktion zwischen den einzelnen Schichten. Das Auge erhält unabhängig von der tatsächlichen Überlagerungsfolge wechselnde zeitliche und räumliche Bewegungsimpulse. Dort, wo die Ebenen sichtbar aufeinandertreffen, an den Bildrändern oder im Grenzverlauf separat gestalteter Bildhälften, wirken unregelmäßige Abschnitte und Linienverläufe als anschauliche Gradmesser einer prozessualen Verschiebung. In diesem Sinne beschreibt jede aufgetragene Schicht einen vorübergehenden Zustand, der durch die nächste Strukturierung relativiert wird. 
Eine neue Position des Künstlers vor dem Bild oder eine gegensätzliche Armbewegung bilden in den konzeptionell strenger gefassten Arbeiten die minimalsten Bedingungen einer zeitlichen Veränderung. In der Bearbeitung kleinerer Flächen, in denen natürliche Schwankungen durch eine bessere Kontrollierbarkeit der Abläufe weniger die strenge Logik des Bildaufbaus beeinträchtigen, greift Jobst Tillmann zum Mittel der Variation. Verschiedene Pinselbreiten, Pinsel oder Schabnadel, die Grundfarben rot, gelb und blau kommen schichtenweise wechselnd zum Einsatz. Zunächst werden diese Variationen wiederum durch bestimmte Abfolgeordnungen reguliert, doch in den jüngsten Bildern öffnet Jobst Tilmann den Spielraum für individuelle Abwandlungen weiter, indem er sogar die Grenze eines kompositionellen Umgangs mit dem Material berührt. Es sind nicht mehr nur die Halbierungspunkte sondern willkürlich gewählte Positionen innerhalb des Bildfeldes, an denen er seine Linienreihen abbricht, um von einer anderen Seite wieder neu zu beginnen. 
Im Endergebnis wird die Bildstruktur uneinheitlicher, zunehmend durch verschiedenfarbige Linien und changierende Farbfelder dynamisiert. Aufgrund der Vielfalt anschaulicher Sensationen tritt der Anteil des Systematischen an der Bildentstehung zunehmend in den Hintergrund. Die tatsächliche Organisation der künstlerischen Handlung ist zwar denkbar einfach, aber anschaulich oft nicht mehr nachzuvollziehen. In einigen Arbeiten spielt Jobst Tilmann gezielt mit der Auflösung oder Verfestigung einer einheitlichen Struktur, wenn er eine in ihrer Gesetzmäßigkeit durchschaubare lineare Gliederung durch den Auftrag von Wasser verwischt oder ein inhomogenes Gefüge mittels des Einsatzes am Lineal entlang geführter Einritzungen wieder stabilisiert. Immer wieder sucht er ein spannungsvolles Gleichgewicht zwischen systematischer Ordnung und prozessualer Veränderung zu erreichen, das die anfänglich beschriebenen Spannungsmomente zwischen einer analytischen und sinnlichen Betrachtungsweise auslöst.

Zurück