Formen anthropomorpher Verfasstheit 2010

Jobst Tilmann in Gütersloh, Eröffnungsrede von M. Stoeber, Hannover

„L´appétit vient en mangeant“, im Deutschen: Der Appetit kommt beim Essen, so heißt die Ausstellung von Jobst Tilmann in Gütersloh. Die Wahl des Titels durch den Künstler verweist auf zweierlei: Zum einen ist da seine französische Sprachform. Sie erinnert daran, dass Tilmann viele Jahre seines Lebens ganz oder zeitweilig in Frankreich verbracht hat und dass ihn die Sprache und Kultur des Landes sicherlich nicht weniger geprägt haben als die Sprache und Kultur Deutschlands. Frankreich hat ihn, wie ich es sehe, als Mensch, aber auch als Künstler geformt. Als Mensch insofern, als er bis heute gutes Essen und Trinken außerordentlich zu schätzen weiß. Aber auch sonst ist Tilmann dem Raffinement einer hedonistischen Lebensform à la française außerordentlich zugeneigt. Damit will ich sagen, er liebt schöne Dinge in jedem Bereich des Lebens. Im Physischen äußerst sich das bei ihm als Sehnsucht nach einer wohl geformten Welt und Wirklichkeit, im Fühlen als Wunsch nach Großzügigkeit und Toleranz, im Denken als Streben nach Klarheit und Plausibilität und in der Sprache als eine Wertschätzung gelungener Formulierungen und Redefiguren. Vor allem aber hat ihn der enge Kontakt zur französischen Lebensweise zu mehr Gelassenheit geführt. Im Umgang mit sich, mit anderen und mit den Wechselfällen des Lebens im Allgemeinen. Gelassenheit ist ja eine Tugend, mit der wir auf Erfolg und Effektivität zielenden Deutschen uns manchmal etwas schwer tun. Und umso besser man Jobst Tilmann kennt, umso deutlicher wird, wie Gelassenheit zu einem Teil und einer Stärke seines Lebens geworden ist. Ich denke, ich kann das so sagen, meine Damen und Herren, kenne ich den Künstler und sein Werk doch seit fast einem Vierteljahrhundert. Eine Zeit, ausreichend genug, um sich ein Urteil über einen Menschen und sein Schaffen bilden zu können. In all diesen Jahren durfte ich immer wieder Zeuge seines Lebens und seines Werks werden. Tilmann, ich habe das einmal in meinem Archiv anlässlich dieser Ausstellung recherchiert, ist einer der Künstler, über die ich im Vergleich mit anderen die meisten Texte verfasst habe. Ich glaube, der einzige, der ihn in dieser Hinsicht toppt, ist allein Timm Ulrichs, über den es noch mehr Texte von mir gibt.

 

Geprägt hat Frankreich Tilmann aber auch als Künstler. Damit meine ich weniger bestimmte Künstler, die auf ihn Einfluss genommen hätten. Sondern die französische Kultur im Allgemeinen. Frankreich wird ja gerühmt nicht nur für seinen Esprit, für das schlagfertige und ins Paradox verliebte sprachliche Parieren à la Sascha Guitry, sondern vor allem für seinen kartesianischen Geist. Für ein Denken entlang den diskursiven Leitlinien des französischen Philosophen René Descartes, den wir alle durch seinen berühmten Satz kennen: „Ich denke, also bin ich.“ Mit ihm bestimmt er nicht nur uns Menschen als denkende Wesen, sondern behauptet auch den Primat des Denkens über das Fühlen. Genau mit dieser Dialektik von Denken und Fühlen setzt sich in sehr raffinierter Weise die Malerei von Tilmann bis heute auseinander. Dabei erweitern sich in seinen Bildern die Gegensätze. Es geht in ihnen nicht allein um den Widerspruch von Verstand und Gefühl. Sondern auf seinen Leinwänden agieren als Protagonisten ebenso sehr Absicht und Zufall, Kalkül und Kontingenz, Chaos und Kosmos. Die antagonistischen Kräfte, die sich in seinen Werken versammeln, sind dieselben, die auch in uns Menschen von Anfang an und bis heute in Streit liegen und mit- und gegeneinander tätig sind: Ordnung und Unordnung, Aufbauen und Niederreißen, Planen und Durchkreuzen. Eines Wollen und ein Anderes Erreichen. Klare Setzung und zufällige Formation. Die Überraschung als Formelement der Kunst wie des Lebens. Am Ende steht bei Tilmann die Umarmung aller widerstreitenden Motive und Elemente in seinem Werk. Eine gelungene „coincidentia oppositorum“. Der Zusammenfall der Gegensätze. In der Religion findet er statt in Gott. Nicht umsonst heißt es: „Mein Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Gott.“ Im Leben bleibt er ein Ziel aufs Innigste zu wünschen, wie Hamlet sagt. In der Kunst manifestiert sich dieser Zusammenfall der Gegensätze im gelungenen Werk. In dieser Lesart werden Tilmanns Bilder am Ende zu Gleichnissen eines nicht bin ins Letzte zu kalkulierenden Lebens, das aber vielleicht doch in schöner Harmonie aufgeht. Dazu braucht es im Leben nicht weniger Anstrengung als in der Kunst. Tilmann präpariert die Gegensätze heraus. Er isoliert sie, exponiert sie und prononciert sie, nur um sie in einem nächsten Schritt zu umfahren, zu vereinigen, zu harmonisieren.

 

In Tilmanns Malerei haben sich über die Jahre nicht die Themen und Motive seiner Kunst geändert, wohl aber die Ausdrucksformen. In seiner Malerei bis etwa 2005  waren Plan und Zufall, Spontaneität und Berechnung, Kalkül und Emotion nicht weniger Bildsujets als heute, indes in sehr viel diskreterer und verschlüsselter Weise, sodass mancher Betrachter diese Bilder als eine Spielart konkreter Kunst missverstanden hat. Dabei ging es dem Künstler gerade darum, den Glauben dieser Kunst an ultimative Formen und Formeln mit ihren eigenen Mitteln zu erschüttern. Das tat er, indem er orthogonale Bilder durch Teilung erzeugte. Keine biologisch organische Zellteilung, sondern eine die sich de more geometrico, im mathematisch kartesianischen Geist, vollzieht. Pinselbahnen, stets in der Horizontale und Vertikale gezogen, teilen das Bild in vier, acht oder auch mehr Felder. Ähnlich einfach und durchsichtig wie das Formkonzept ist das Farbkonzept. Primärfarben, gelegentlich mit Weißbeimischungen werden in einer Vielzahl von Schichten  übereinander gelegt. Den Konstruktivismus, der in der strengen Orthogonalität dieser Bilder angelegt ist, konterkariert der Künstler durch die Unschärferelation der Ausführung. Die vertikalen und horizontalen Pinselbahnen fransen an den Rändern aus und verziehen sich. Sie werden eigenwillig und subjektiv. Die subtil sich zeigenden Oppositionen dieser Malerei arbeiten seine neuen Werke in ganz neuer Weise heraus. Was indes gleich bleibt ist, dass auch die neuen Werke bestimmten Parametern folgen, die ganz viele bildnerische Formulierungen erlauben. Ähnlich wie beim Schachspiel, in dem eine Handvoll von Figuren und Regeln zu potentiell unendlich vielen Spielzügen führen können. Auch darauf zielt der Ausstellungstitel: L´appétit vient en mangeant. Der erste Schritt, den Timanns neue Bilder machen, besteht nicht in einer Anleihe bei der konkreten Kunst und beim Konstruktivismus, sondern beim Informel und beim abstrakten Expressionismus. Wie in dieser Kunst durchaus üblich, schüttet, gießt und spritzt Tilmann Farbe auf seine auf dem Boden liegenden Leinwände. Das dünnflüssige Acryl fließt dabei ineinander, was der Künstler forciert, indem er die Leinwände anhebt und sanft hin und herbewegt. Weitere Farbe bildet neue, lasierende Schichten. Bei seinem Vorgehen sucht Tilmann jeden Voluntarismus, jede Intentionalität und jeden Kompositionswillen zu vermeiden. Er schafft im Geist einer écriture automatique, einer automatisch sich vollziehenden Bildschrift, wie die Surrealisten eine Gestaltungsform nannten, von der sie hofften, sie sei der Königsweg zum Reich ihrer Träume und ihres Unbewussten.  

 

Aber Jobst Tilmann geht es keineswegs um dieses Reich. Im Tachismus seiner Bilder will er keine höhere, innere Wirklichkeit ausstellen. Sondern ihre Farb- und Formwelt wird ihn zum gestalterischen Material für ganz andere Werke. Sie ist nicht Endpunkt, sondern ganz im Gegenteil Ausgangspunkt für neue Bilder. Er studiert die informellen Gebilde und sucht in ihnen nach für ihn brauchbaren Formen. Der Titel „Ulysse“, also Odysseus, für einige der großen Gemälde in Gütersloh ist wahrlich gut gewählt. Wie der auf der Suche nach seiner Heimat zehn Jahre in der Welt umher irrende Odysseus wird auch der Künstler hier zum Suchenden. Und Findenden. Dabei sucht er nicht nur in seinen großen Gemälden, sondern ebenso sehr in seinen leichter und schneller herzustellenden Tuschen. Ihre Verfertigung geschieht nach derselben Strategie wie die Acrylbilder. Auch hier liegen die Blätter aus Papier auf dem Boden. Auch hier sucht sich die Tusche, geführt von minimalen Interventionen des Künstlers, ihren eigenen Weg. Der Zufall wird zum Hebammenhelfer der Kunst. Aber Tilmann bleibt einmal mehr nicht bei ihm stehen. In einem zweiten Schritt prononciert er wie auf den großen Gemälden bestimmte Farbinseln, die sich zuvor mehr oder weniger von selbst gebildet haben. Dabei umrundet er die informellen Gebilde mit einer gezackten Linie. Oder er deckt den Bildgrund mit vornehmlich grauer oder auch weißer und schwarzer Farbe zu und modelliert auf diese Weise die Morphologie seiner Formen aus der Farbe hervor auf der Suche nach ihrem spezifischen Kern. Es geht hier nicht, wie der Künstler betont, um Formerfindung, sondern um Formerfassung. Die künstlerische Methode der Tilmann folgt, ist eher die eines aufdeckenden Verfahrens. Eine malerische Hermeneutik, die nicht erfindet, sondern zu Tage fördert, was schon immer da war. Dabei mag einem Goethe einfallen mit seiner These von der „geprägten Form, die lebend sich entwickelt.“ In diesen zweiten Schritt kommt nun zum Tragen, was in der Genese seiner früheren Bilder am Anfang stand, der Konstruktivismus. Die Signatur der gezackten Linie ist sein Rationalismus. Ein Kunstschaffen mit allen, und vor allem geschärften Sinnen. Was indes die Methode der Formerfassung mit der Formerfindung früherer Malerei Tilmanns verbindet ist die methodische Stringenz, mit welcher der Künstler seine Motive materiell und medial darstellt.

 

In der Gütersloher Ausstellung lässt sich beispielhaft verfolgen, wie die Formen dabei migrieren. Diese so genannte Migration der Formen, allerdings quer durch die Geschichte der Kunst, war ja ein zentrales Thema der letzten Kasseler Documenta. Tilmann lässt sie innerhalb des eigenen Werkes wandern. So stellt er in seinen Gemälden Formen frei, die dann als singuläre Motive in verschiedenen Einzelbildern erscheinen. Oder er ergreift sie, um sie in einer Zeichnung wie in einem Archiv ordnend nebeneinander zu stellen und zur Besichtigung freizugeben. So verfährt er auch mit den Tuschen. In einer großen Tusche lokalisiert Tilmann beispielsweise zwei Formen, die er mittels eines Kohlestiftes in scharfer Konturierung hervorhebt oder als Gouache, wobei er den Rest der Tusche durch einheitliches Weiß zudeckt. In einer anderen Tusche hebt der Künstler drei Formen durch unterschiedliche Weisen der Verdichtung hervor. Einmal durch die konturierende Linie, dann durch Schraffur, schließlich durch schwarze, das ganze Formfeld bedeckende Kohle. Auch hier wird der Rest der Tusche durch Weiß zugedeckt. Immer ist die Umrisslinie der Formen gezackt und erinnert in dieser Verfassung an das Vokabular des Konstruktivismus und daran, wie kalkuliert, planerisch und rational der Künstler in diesem Part seine künstlerischen Aufgaben bewältigt. In anderen Fällen bleiben die Tusche genau wie die Gemälde erhalten, und der Künstler kopiert seine Form mittels Pergamentpapier. Diese Formen wandern dann ebenfalls, oft anders gestellt, auf ein neues Blatt Papier, wo sie, oft in Gemeinschaft mit weiteren Formen, eine neue Komposition bilden. Weiter haben die Tuschen mit den Gemälden gemeinsam, dass Tilmann in ihnen Formen durch Geometrisierung freistellt per Linie oder Vollform und die Komposition partiell durch graue Farbe zudeckt, um so die ausgewählten Formen hervorzuheben. Allerdings erweitert Tilmann das Ausdrucksvokabular der Tuschen noch um eine äußerst raffinierte Variante, in der sich konstruktive und organische Abstraktion miteinander mischen. Seine durch eine See von zudeckendem Weiß freigestellten, geometrisierten Formen machen sie umschlingende Grafitschwünge, ob nun als einzelne oder im Bündel, wieder weich und fließend.

 

Wir erleben hier eine Verbindung unterschiedlicher Ausdrucksformen, die wir auch in den dreidimensionalen Objekten des Künstlers wieder finden. In einer neuen Werkserie macht Jobst Tilmann den Schritt von der zweiten in die dritte Dimension und erweitert damit sein Ausdrucksvokabular um ein Beträchtliches. Man hat das Gefühl, als ob die frei gestellten Motive und Formen der Tuschen und Gemälde ihn förmlich drängen, sie als plastische Objekte in unterschiedlichen Formaten und Materialien zu bauen. Schon bei ihrer Erfassung als singuläre Motive innerhalb der anarchischen Farb- und Formlandschaften der Tuschen und Gemälde haben diese etwas von Modellen an sich, die gebaut werden müssen. An einzelnen Formen kann man diese Erhebung in die dritte Dimension sequentiell miterleben. Am Anfang steht die Freistellung und Kristallisierung auf einem einzelnen Blatt. Dann wird die Form zu einem an der Wand hängenden, flachen Bildobjekt verarbeitet. Schließlich zu einem plastischen Boden- oder Sockelobjekt. Es genügt Tilmann hier offensichtlich nicht mehr, seine Formen in den Gemälden und Tuschen spielerisch freizustellen und in immer neue Zusammenhänge zu bringen. Er will ihnen auch zu einer autonomen ästhetischen Existenz verhelfen, um zu sehen, wie sie sich als Ding in der Welt der Dinge bewähren. Was sich auf der Leinwand und auf Papier einmal als harte und konstruktive, dann wieder als weiche und organische Linie zeigt, manifestiert sich plastisch entweder als aus Textilien gefertigte soft sculpture oder als aus Holz zusammengefügte hard sculpture. Ein Bodenobjekt aus Holz zeigt auf einer Seite deutliche Spuren malerischer Bearbeitung. Sie führen nicht nur zu seinem Status als specific object, wie Donald Judd Objekte nannte, die zwischen Malerei und Plastik oszillieren, sondern verweist auch auf seine Herkunft aus dem Reich der Malerei und des Gemäldes. Nicht anders geht es mit den soft sculptures aus blauem und rotem Stoff, deren Farbigkeit ebenfalls die Verbindung zur Malerei aufrecht erhält, während ihre viril gezackte Umrissform in schönem Gegensatz steht zu ihrem weichen Material. Der materiale und konstruktive Gegensatz schreibt die Dichotomien fort, die auch dieser Werkserie  von Jobst Tilmann von Anfang an eingeschrieben sind: Zufall und Plan, Regellosigkeit und Ordnung, Generalisierung und Fokussierung. Mit solcher Zuspitzung verlässt das Werk des Künstlers einmal mehr das Reich eines bloßen l´art pour l´art und schafft gültige ästhetische Formen für die anthropomorphe Verfasstheit der Welt.

 

Michael Stoeber

 

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